Aschenputtel

Konzentriert, kerzengerade und wackeligen Schritten in ihren viel zu großen Pumps balancierte Luise ihre Krone auf dem Kopf. Der große Koffer auf dem großelterlichen Dachboden enthielt alles, was sich eine Königin nur wünschen konnte: Lange weiße Häkelgardinen, roten Pannesamt, Omas ausrangierten Schuhe.

Aufdringliches Sirren riss sie aus dem Mittagsschlaf. Mit einer energischen Handbewegung versuchte Luise nicht nur eine freche Mücke, sondern ihre Kindheitserinnerungen gleich mitzu verscheuchen.

Das Telefon klingelte, und sie durchschritt – wohl unter dem Eindruck ihres Traumes - etwas aufrechter als gewöhnlich das Wohnzimmer, um den brokatverkleideten Hörer abzunehmen. 

Luise sammelte Gegenstände, um die sie ihre Freundinnen zu Kinderzeiten beneidet hatte. Der Kronleuchter im Schlafzimmer, das schwarzlackierte Klavier, die deckenhohen Nussbaumregale mit der Bücherleiter. 

Das Läuten verstummte auf der Stelle. Es war Heiner, der sie bat, eine Reisegruppe durch das Heimatmuseum zu führen. Gritt sei erkrankt. Er suchte händeringend Ersatz. Sollte er ruhig ein bisschen zappeln. So würde er ihr Engagement für den Heimatverein sicher noch mehr schätzen lernen.

Ein Blick in den Spiegel, auf den modernen, grauen Kurzhaarschnitt gerichtet, das lässige Leinenkleid noch einmal glattgestrichen, den dunkelroten Lippenstift gezückt und die dazu passenden Ohrclips angelegt – zufrieden mit ihrer Erscheinung schlüpfte sie in ihre sündhaft teuren roten Markenschuhe, angelte nach ihrer Handtasche und machte sich in ihrem Cabrio auf den Weg zur Warft.

Wie nicht anders erwartet, verstummte das Summen der Touristengruppe vor dem Eingangstor, als sie lässig auf sie zuging. So hatten sie sich eine Landpomeranze vom Heimatverein sicher nicht vorgestellt. Zufrieden lächelte Luise in sich hinein.

Mit kurzem, verhaltenem Gruß, den altertümlichen Schlüssel in der Hand, ging sie an den Urlaubern vorbei, um sie einzulassen. 

Sich ihrer einschüchternden Wirkung bewusst, nahm sie zufrieden zur Kenntnis, dass sich der Halbkreis um sie herum in gebührendem Abstand formierte.

So absolvierte sie den Parcours vorbei an allen Exponaten in dem 300 Jahre alten, gut erhaltenen Haubarg. Es bedurfte nur eines kurzen, vernichtenden Blicks, um die profilneurotischen Oberlehrer zum Schweigen zu bringen. Und nein, das musste niemand gendern, es waren immer die Männer, die auf plumpeste Weise versuchten, sich auf ihre Kosten zu profilieren!

Geschafft. Wohlig ließ sich Luise in den Ledersitz ihres Cabrios sinken.

Sie sah auf die Uhr und stellte entspannt fest, dass sie noch ein bisschen Zeit hatte und es pünktlich auf die Geburtstagsfeier der Zugereisten schaffen würde. Dabei lag es überhauptnicht in ihrer Absicht, pünktlich zu sein. Als Einheimische – schließlich war sie auf der Inselgeboren – konnte die Jubilarin sich glücklich schätzen, wenn sie dort überhaupt erscheinen würde. Sie habe einen „Überraschungsgast“, einen Freund aus Studienzeiten, eingeladen.Auch einer vom Meer.

Luise genoss es, von den Meeresschwärmern umworben zu sein. Es entschädigte sie für die Entbehrungen ihrer Kindheit als jüngstes von fünf Kindern eines Tagelöhners. So etwas gab es in ihrer Kindheit tatsächlich noch. Männer ohne Ausbildung, die sich und ihre Familien durch harte, körperliche Arbeit auf den umliegenden Höfen mehr schlecht als recht durchbrachten. Ihre Mutter hatte den Frauen am Waschtag geholfen. Das war ebenfalls noch Knochenarbeit gewesen in den Fünfzigern, als es auf der kleinen Insel noch keine elektrischen Waschmaschinen gegeben hatte.

Ihre Wohnung, zwei kleine Zimmer, war unter dem Dach des „Gemeindehauses“ gewesen. 

Genauso gut hätten die Inselbewohner es auch Obdachlosenheim oder „Haus der Habenichtse“ nennen können. Man machte einen Bogen um dieses einzige Mietshaus auf der gesamten Insel. Die Winter dort waren furchtbar lang, kalt, eng, grau und einsam. Doch der Sommer war milder gestimmt. Dann war sie ein Kind unter vielen, das die Zwergschulebesuchte und sich pünktlich zum Hochwasser an der Badestelle am Deich einfand. Schon damals hatte sie sich an die Urlauberkinder gehalten.

Mit großen Augen folgten die ihren Geschichten. Anstatt sie wegen ihrer Herkunft zu verachten, respektierten und bewunderten sie sie.

Die Urlauberkinder waren stolz darauf, ein echtes Inselmädchen zu kennen. War sie im ersten Jahr dieser bahnbrechenden Entdeckung noch auf die Kinder zugegangen, so gelang es ihr im Lauf der Jahre immer besser, ihr Engagement zu zügeln. Betont desinteressiert kehrte sie allen Neuen den Rücken, um sich ganz den Kindern mit den älteren Rechten zu widmen. 

Irgendwann hatte sich ihr Frieda angeschlossen. Eine Freundschaft, die bis heute bestand. Frieda kam regelmäßig in den Ferien. Ihr Großvater hatte einen Hof auf der Insel besessen. Sie sprach sogar Inselplatt. Über ihre Familie auf dem Festland sprach Frieda nicht. Das hatten die zwei gemeinsam.

Sie mochten vielleicht 13 Jahre alt gewesen sein, als sie sich in einer heißen Augustnacht in der Hoffnung auf ein Meeresleuchten zum Hochwasser getroffen hatten. So oft hatten sie von diesem seltenen Naturspektakel gehört und noch nie hatten sie es selbst erlebt.

Sie waren nicht allein. Als sie den Deich hinunterliefen, vorbei an einem kleinen, in der Ferne nur grau und schemenhaft erkennbaren Kleiderhäufchen, leuchtete dort noch etwas anderes, das Luise vollends in Bann zog. 

Frieda achtete nicht auf sie. Sie lief schon mit verzückten Ausrufen auf´s Meer zu, während Luise wie magisch angezogen vor den ordentlich aufgeschichteten Kleidern des anderennächtlichen Schwimmers in die Knie ging. Obenauf lag ein wunderschöner, silberner Armreif, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Ohne nachzudenken hatte sie den blitzschnell an sich genommen und schließlich unter ihren eigenen Kleidern versteckt.

Als sie ins Wasser stakste, kam ihr eine große, nackte Frau entgegen. Wortlos nickend lächelten sie sich im Vorübergehen an. Es war ungewöhnlich windstill. Während sie nach der Silhouette von Friedas blonden Locken auf der Wasseroberfläche Ausschau hielt, hörte sie von weitem eine Gruppe lachender Kinder über den Deich herannahen. Sie erkannte Arnes Stimme. Arne, der sie so beschämt hatte, als sie ihn im Unterricht einmal verstohlen betrachtet hatte. Ganz laut hatte er gelacht, mit dem Finger auf sie gezeigt und „Was glotzt du so, Aschenputtel?“ gerufen. Alle hatten sie angesehen und gelacht. Seitdem war sie diesenNamen nicht mehr losgeworden: Aschenputtel. Aschenputtel.

Als sie, aus dem Wasser kommend, schnatternd und glücklich den Deich hinauf zu ihren Kleidern strebten, traten beim Näherkommen die Umrisse der Frau aus dem Dunkel hervor. Ganz gerade und still stand sie da. Wie eine Erscheinung. Sie hielt ihren Armreif in der ausgestreckten Hand. Hinter ihnen kamen die Jungen aus dem Wasser. Als sie zu ihnen aufgeschlossen hatten, blieben sie neugierig stehen. „Wisst Ihr“, begann die Frau mit einer dunklen, traurigen Stimme, „dieser Armreif ist das Geschenk eines Menschen, den ich sehr geliebt habe. Er bedeutet mir viel.“ Durchdringend sah sie Luise an: „Es hätte mir sehr weh getan, wenn du ihn mir weggenommen hättest.“ Dann drehte sie sich um und verschwand im Dunkel. 

„Ich fass es nicht“, Arne hatte als erster die Sprache wiedergefunden. „Nun klaut es auch noch, das Aschenputtel! Los, Jungs, lasst uns gleich mal gucken, ob was fehlt!“

Luise wusste nicht mehr, wie Frieda und sie zu ihren Fahrrädern gelangt waren. Ihre Erinnerung setzte erst auf der Bank eines Wartehäuschens wieder ein. Ein Blitz durchzuckte die Dunkelheit. Prasselnder Regen setzte ein. Gebrochen, weinend und klappernd vor Kälte, so wiegte Frieda sie in ihren Armen. 

Irgendwann waren auch diese Ferien zu Ende. So sehr sie sich auch bemühte, Arne aus dem Weg zu gehen, immer, wenn er sie erwischte, schlug er mit Demütigungen auf sie ein.

Erst als sie nach der Schule endlich, endlich die Insel verlassen konnte, um auf dem Festland eine Ausbildung zu beginnen, durften diese Erinnerungen allmählich verblassen. Nie wieder würde sie sich damit befassen. Die Heirat mit Joachim hatte ihr schließlich sogar einen echten Adelstitel eingebracht. Da erinnerte noch nicht einmal ihr Name mehr an ihre jämmerliche, schutzlose Kindheit, derer sie sich so sehr schämte.

Dann hatte es sie nach Joachims Tod aus unerklärlichen Gründen doch wieder zurück auf die Insel gezogen. Als vermögende Witwe hatte sie ein hübsches, reetgedecktes Anwesen erstanden.

Kaum jemand aus ihrer Jugend war noch dortgeblieben. Ihre nunmehr elegante Erscheinung sowie der Titel hielten die Menschen auf Abstand. Die alte Geschichte war vergessen und Luise tat alles dafür, dass das auch so blieb.

Luise sah auf die Uhr. Sie verscheuchte diese, allen verbitterten Bemühungen trotzenden, regelmäßig wieder aufsteigenden Dämonen und warf einen letzten, zufriedenen Blick in den Spiegel, bevor sie in ihr Cabrio stieg, ihrem Auftritt entgegen.

„Ah, da bist Du ja endlich“, begrüßte sie die Jubilarin freudig und zog sie mit sich in den Raum zu den anderen Gästen. „Luise von Heyer“. Mit einer stolzen, beinahe theatralischen Vorstellungsgeste lenkte sie die Blicke auf Luise. „Eine echtes Inselkind, hier geboren und zurückgekehrt. Ja, das Meer und diese wunderbare Landschaft lassen einen nicht los. Davon weiß auch mein alter Jungendfreund hier zu berichten.“ In den abebbenden Applaus hinein winkte sie einen großen, selbstbewussten Mann zu sich heran. Sich der Aufmerksamkeit der Anwesenden bewusst, verbeugte er sich vor Luise, ergriff ihre Hand wie zum Kuss, grinste und sagte laut und vernehmlich „Na, sieh mal einer an: Das Aschenputtel!“

Es war schwül im Raum. Ein Blitz durchzuckte die Dunkelheit vor den Fenstern. Prasselnder Regen setzte ein.